ADELE BERICHTET - NAPOLEON SEYFARTH über den unltimativen Kultroman von Dirk Wolter Orgas Gestern abend setzte ich mich, kurz vor meiner allabendlichen Szenetour, um 22 Uhr auf mein Sofa, um noch ein wenig in SANTA ADELE - EIN SCHWEINEMÄRCHEN zu blättern. Als ich eine Stunde später auf die Uhr schaute, war es vier Uhr morgens und ich hatte den Roman in einem Zug durchgelesen. Kenner meiner Person und meiner Ausgehsucht werden schon jetzt ahnen, was ich von diesem Werk halte: Es ist, mit einem Wort, grandios oder, um es antiker auszudrücken prometheisch. Gewisse Gouvernanten des deutschen Feuilletons, die bislang vergeblich nach dem deutschen AIDS-Roman fahndeten, weil sie ihn mit benebelten Stilbrillen in den falschen Schubladen gesucht hatten, sollten ihre Gläser putzen: Hier ist er. Aber er ist noch viel mehr. Einsotierungssüchtige sollten sich dabei hüten, das Buch in der Schublade AIDS-Literatur abzulegen. Das Werk hat die Qualität, mehrere Schubladen zu füllen. Deshalb gehört es in keine, sondern auf den Lesetisch. Der Autor des Buches heißt Dirk Wolter-Orgas. Erzählt wird das Buch von drei Personen: Dem Ich-Erzähler Olaf. Seinem AIDS-kranken Freund, der - ist Nomen Omen? - Glück heißt. Und einem Schwein, dessen Name an einen schwäbischen Abschiedsgruß gemahnt: es heißt Adele. Wir schreiben das Jahr des Schweins 1995. Adele möchte nach Glücks Tod in Olafs Wohnung ziehen. Ein Verlangen, das den Leser nicht befremden sollte; sind doch Schweine in Berliner Wohnungen heutzutage nichts Ungewöhnliches mehr. Olaf, in Kästnerscher Trauerstimmung, "Glück ist niemals hier, ist immer dort", wehrt sich gegen die unerträgliche Leichtigkeit des Schweins, was in diesem Zusammenhang wörtlich und alles andere als kalauernd zu verstehen ist. Der Leser wird gespannter Zeuge bei Adeles Versuch, Olaf, dem Zurückgelassenen, wieder Lebensmut zu geben, ja das Überleben und das Nachleben zu lehren. Adele, bei der man im Laufe der Lektüre immer mehr versteht, warum sie auf dem Buchtitel als Santa Adele firmiert, erzählt Olaf und dem mitfühlenden Leser von ihrer Herkunft und ihren Ursprüngen, als wäre sie direkt aus dem Reiche Saint-Exuperys gekommen. Sie erreicht damit auch jene Leser, der dem kleinen Kind, dem kleinen Prinzen, dem kleinen Ferkel in sich "einen jahrelangen Stubenarrest erteilt" hatten. Durch ein gelungenes System von Rückblenden werden wir in die bisherige Beziehung von Olaf und Glück eingeweiht - in die alltäglichen Szenen einer Ehe, bei deren Schilderung man ab und an versucht ist, die Namen Olaf und Glück mit den vertrauten Namen Konrad und Paul zu vertauschen. Ein nach Glücks Tod aufgefundenes Tagebuch erzählt von seinem Leben mit dem, was er bisher sein Leben genannt hatte, seiner HIV-Infektion und seiner AIDS-Erkrankung. Wer jetzt eine larmoyante Krankengeschichte befürchtet, sei beruhigt: es ist eher eine Liebesgeschichte, ein Nach-denken, eine Auseinandersetzung und letztendlich, eine Bewältigung jener drei großen L, die unser Leben bestimmen - Liebe, Lust und Leiden. Im letzten Tagebucheintrag, Adeles Traum, einem furiosen Prä-Finale Grande, das eines Umberto Ecos ebenbürtig ist, führt uns Glück in den Grenzbereich des Lebens von Sterben und Tod. Wobei ich mich frage, ob der im und am Leiden gewachsene Glück allein diese Lotsenfunktion vollbringt. Sind es nicht auch Olaf und Adele, die hier mit Glück zu einer sich gegenseitig ergänzenden Dreieinigkeit verschmelzen? Jene göttliche Trinität, die aus dem teuflischen Zweifel, dem irdischenen und kränkenden Entweder-Oder das heilige, wenn nicht gar heilende Sowohl-Als-Auch bildet? Diese Stelle, Adeles Traum, korrespondiert in wundersamer Weise mit einer anderen Stelle des Buches, Glücks Traum. Hier stellt der Autor eine in deutschen Romanen nicht allzuhäufig anzutreffende Fähigkeit unter Beweis. In Glücks Traum erscheint ein Lebewesen, das mit einem Schwein nicht nur die Konsonanten gemein hat - ein Schwan. Und dieser Schwan, die Ähnlichkeit ist sicherlich nicht zufällig, hat die Gestalt einer bebrillten und bundesweit durch Talkshows und Waschmittelwerbung bekannte Moderatorin. Nach dem Lesen dieser Traumsequenz erscheint einem der altrömische Brauch der Christenverfolgung in einem ganz anderen Lichte. Trotz und gerade wegen Glücks Tod gibt es kein unhappy end. Olaf nimmt, sicher unter dem Beifall all derer, die das Schwein an und in sich nicht nur wittern, sondern auch zu akzeptieren gelernt haben, Adele in seine Wohnung auf. Werden sie, wie in Märchen so üblich, zusammen glücklich und zufrieden, bis an das Ende ihrer Tage leben? Ich hoffe es für Olaf und Adele, denn dann werden sie weiterhin Glück haben. Es ist, vor allem hierzulande, in Kritiken üblich, einen Autor nicht uneingeschränkt zu loben, sondern hier und da eine Stelle zu finden, die der Rezensent heftig bekritteln kann, um seine eigene Größe unter Beweis zu stellen. Ich möchte mich dieser Rezensentenpflicht nicht verschließen. Auf Seite 114 führt sich der Autor in der Nebenfigur des Fotografen Dirk selbst ein. Er beschreibt sich darin als einen mit 1,69 Meter zu klein geratenen Menschen. Hier irrt der Autor gewaltig. Dirk Wolter.Orgas mag zwar 1,69 Meter kurz sein, aber für mich gehört er in die Reihe der ganz Großen.
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